3
Okt
2005

Halbzeit?

So, da ist jetzt also die Hälfte unserer Zeit hier vorbei – ein wie so oft gutes aber auch merkwürdig schlechtes Gefühl. Man könnte hier so unglaublich viel tun, man hat einige Freunde gewonnen, beeindruckende Personen getroffen und zu allem Überfluss sind die meisten israelischen Soldaten wesentlich umsichtiger mit den Palästinensern wenn andere Ausländer als sie selbst dabei sind... Man kann den Eindruck völlig von den Medien Gehirn gewaschener Europäer etwas relativieren und nach der angemessenen Eingewöhnungszeit und Honeymoonphase ebenso mal offenherzig bekunden, was man absolut scheiße hier findet – und das ist naturgemäß auch nicht gerade wenig. Alles in allem also: wie gehabt. Die Israelis setzen ihre „gezielten“ Tötungen und ihr Terminator-Gehabe fort, die Palästinenser demonstrieren und gehen ein bisschen wählen, einige rasten aus, die überaus meisten begegnen dem allen mit gelassenem Gleichmut. Irgendwie scheinen sie alle das Thomas-Theorem zu kennen, nach dem alles, was für real gehalten wird, auch reale Konsequenzen zeitigt. Und die Palästinenser scheinen sich immer für etwas weniger unterdrückt zu halten als sie es realiter sind. Und sich damit etwas freier zu fühlen als sie es tatsächlich sein dürfen. Und ich guck mir das alles an, schüttele den Kopf und sage wieder kaum anderes als: Ach, wie interessant.
Unsere Arbeit hier läuft ihren angemessenen und interessanten Gang, wir beginnen langsam mit den Auswertungen unserer Erhebungen. Einige Tage waren wir ganz Touristen-mäßig im Merkwürdigen Haschemitischen Königreich von Jordanien (wie es so oder so ähnlich immer auf den Geldscheinen stand, die wir dort zuhauf lassen mussten) unterwegs, haben auch einen neuen Mitbewohner auf Star Mountain, nachdem der alte, nun sogar von mir vermisste Stephan (Liebe Grüße, du blonder Weltverbesserer!) sein Mitunsleben im Schlachtfeld des Straßenverkehrs von Amman lassen musste – und nun wieder in Deutschland weilt. Zudem besuchten wir eine recht internationale und bereits für jeden Freitag institutionalisierte und ritualisierte „Anti-Apartheids-Mauer“-Demonstration in einem nahen (noch) palästinensischen Dorf auf der ehemaligen Grünen Grenze, die vielleicht auch durch unser unschuldig interessiertes Grinsen zum ersten Mal nicht mit Tränengas, Kugeln, Pauschalinternierungen & Co von der Armee aufgelöst wurde. Zudem waren auch wenigstens einige Anhänger der mickrigen israelischen „Friedens“-„Bewegung“ anwesend, und auf die eigenen Leute zu prügeln oder zu schießen, kommt selbst in Israel nicht gut an, wie man beim Gaza-Abzug sah. Wir sind also heil geblieben und haben neben der Soldateska vorrangig Leute fotografiert, die Leute fotografierten, die die Soldateska fotografieren wollten, aber nur Leute vor die Linse bekamen, die mit ihren Kameras andere Leute mit Kameras fotografierten... also uns! Freilich mag es viele Soldaten geben, denen die schmutzige Unterdrückungsarbeit in all ihren Facetten zuwider ist, aber irgendwie ist es mir gerade nicht mehr möglich solche, so man sie hin und wieder zu erkennen glaubt, als normale Menschen zu betrachten, mit ihnen über völlig banale Alltäglichkeiten ins Gespräch kommen zu wollen usw. Soldaten funktionieren halt nur im Plural und wenn’s hart auf hart kommt, verschwindet der Mensch hinter seinem Visier und seinen Waffen. Im Kern aber war diese Demo eben eine der perfekt beherrschten und auch darum wieder einmal gelungenen mehrheitlich palästinensischen Medieninszenierungen, um mit einfachen und klaren Bildern zu beleuchten, dass der ohnehin umstrittene Mauerbau militärisch forciert wird und noch zusätzliches palästinensisches Land enteignet – aber wahrscheinlich interessiert das eh keinen mehr wirklich. So unfein es sein mag, so etwas zu schreiben, aber politisch betrachtet waren die Palästinenser – vielleicht mit Ausnahme der Ersten Intifada – seit Jahrzehnten das politische Verlierervolk, in allen Himmelsrichtungen irgendwie unerwünscht und diskriminiert. So zerstückelt von riesigen Siedlungen die besetzten Gebiete nun einmal sind, so viel Land, wie jetzt durch die Mauer zusätzlich enteignet wird, so repressiv und anmaßend die Besatzungsherrschaft ist, auf so wenig Unterstützung und Ressourcen man hier bauen kann, so korrupt und machtlos das bürokratische und „staatliche“ System hier ist, so dermaßen eskalierend, wie die unterschiedlichen Terrorismusagenturen hier konkurrieren und kommunizieren, so viel Intelligenz und Geld hier abwandert... Palästina, im hinreichend vollständigen Sinne des Begriffs, existiert nicht und wird nicht existieren. Und mich wundert es nicht mehr, dass nicht wenige den fundamentalistischen Rattenfängern „freiwillig“ in die Arme springen. Außerdem wurden die wenigen größeren der hiesigen Errungenschaften und der bescheidene Wohlstand schon so oft zerstört und in Frage gestellt, dass es selbst hier kaum noch jemanden ernstlich schmerzt, wenn sich wieder mal etwas in Luft und Staub auflöst. Es wird selbstgenügsam wieder aufgebaut, so es kein Leben in individueller Substanz war und die Israelis überhaupt eine Baugenehmigung erteilen, und, wie meine Mutter so oft polemisch sagte: wer nicht rumheult, dem muss es ja gut gehen. Horkheimer und Adorno sollte man hier also besser nicht lesen, wenn man sie mag (was keinesfalls eine Aufforderung sein sollte, im Gegenzug Habermas zu studieren!)... Morgen gehen wir auf’s „Oktober-Fest“ (!) Taybehs (dem größten und wohl einzigen Brauerei-Ort hier, wo letztens die Häuser brannten*) und spülen das alles weg. Schnell weg, denn um sieben Uhr abends ist Sperrstunde!
In diesem Sinne: Tagesschau fängt gleich an. Mal sehen, was wieder nicht berichtet wird. Wie im Osten...


* Apropos: unabhängig von dem, was wir dazu schrieben, hat Peter Schäfer, ein hier lebender Journalist, am 17.09. einen guten Artikel mit einigen weiteren Hintergründen zu dem Vorfall in Taybeh in der Zürcher Zeitung (Nr. 217/05) veröffentlicht. Wen’s interessiert, kann ja mal etwas im Netz surfen.

Ein Zaun, oder so.

Eine Zwiebel, ein Helm, Tuch und Fotoapparat. Und eine Portion Glück. Unser Glück war groß genug, dass wir eigentlich nur unseren Fotoapparat brauchten, den Rest hatten wir eh nicht dabei.
Jeden Freitag seit dem Näherkommen der neu gebauten Mauer im März findet im Dorf Bilein, 30 Min Autofahrt von Ramallah, eine Demonstration statt, um die Wut über die Einbetonierung des Dorfes zu äußern und sie in mediengerechte Symbole zu verpacken. Daher ist auch der Fotoapparat, besser noch die Filmkamera, der wesentliche Gegenstand vor Ort: in Palästina-Fahnen gehüllte und herausgeputzte Kleinkinder, die vor einer Reihe martialisch ausgerüsteter israelischer Soldaten herumhüpfen; in Olivenbäumen sitzende Dorfbewohner, die ihre Ernte demonstrativ einbringen, hinter ihnen fällt der Blick auf eine wunderschöne Hügellandschaft - und eine Reihe israelischer Soldaten; der mitgeführte Esel, der sich hervorragend in Szene setzen lässt; einzelne Rangeleien zwischen Demonstranten und Militärs, Rangeleien um ein bis hierhin und nicht weiter… Bilder von internationalen Demonstranten, von älteren israelischen FriedensaktivistInnen, gehisste Palästina-Fahnen, die aus heikler Symbolik nicht von israelischen Soldaten heruntergerissen werden dürfen… bieten gut komprimierte Bilder für die Weltöffentlichkeit.
Wenn einem bewusst wird, worum sich dieser ganze Zirkus eigentlich dreht, dann kann der Protest nicht groß genug sein. Denn der „Schutzwall“, der Israel vor Selbstmordattentaten beschützen soll, wird nicht nur um das gesamte Westjordanland errichtet, es werden ganze Dörfer eingemauert. Die Bewohner dieser Gebiete werden somit um ein weiteres Stück ihrer (Bewegungs-) Freiheit beraubt.
Der Gedanke, innerhalb Deutschlands von Hamburg aus nicht nach Ostberlin fahren zu dürfen (oder andersrum) scheint mittlerweile völlig absurd – der Gedanke, sein Dorf Tetenbüll nur mit der willkürlichen Erlaubnis dort stationierter Soldaten betreten und verlassen zu dürfen, ist wohl nicht nur für die Bevölkerung Tetenbülls unvorstellbar.
In Palästina werden Dörfer eingemauert. Die Dörfer die nahe des Verlaufs der Mauer liegen, werden systematisch eingeschlossen, Bauern werden dadurch von ihren Feldern weggesperrt, andere verlieren ihre Arbeit außerhalb des Dorfes und damit ihre Lebensgrundlage. Und dann geht die Kalkulation israelischer Politiker auf: bevor sie in ihren Dörfern verhungern und verdursten, verlassen die Menschen ihre Heimat – unbewohntes Land kann leichter eingenommen werden.
Bilein wird umzingelt, halbkreisförmig verläuft in Zukunft die Mauer hinter dem Dorf und auf der anderen Seite wachsen israelische Siedlungen von den Kuppen der umliegenden Hügel herab.
Neben dem Kampf um den Boden des, ...ach..., „Heiligen Landes“, wird der Zugang zur knappen Ressource Wasser als Mittel der Unterdrückung eingesetzt.
Mohammad hat das Parterre seines zweigeschössigen Hauses als zentralen Anlaufpunkt und als Unterkunft für aus dem Ausland (und aus Israel) angereiste Demonstranten bereitgestellt. Trotzdem man ja eigentlich ein Teil dieser merkwürdigen Gemeinschaft ist, muss man über dieses Szenario erstmal schmunzeln: junge Leute liegen auf Matratzen herum, begrüßen eintreffende bekannte Gesichter überschwänglich und beäugen unbekannte aus ihrer lässigen Position mit cooler Distanz. Die Grundregeln des Miteinanders sind auf Plakaten erklärt: Abwaschen!, Geld in die Haushaltskasse zahlen, auch mal aufräumen; über der Toilette: if it´s yellow let it mellow, if it´s brown flush it down! Und: einen wahren Revolutionär erkennt man am Geruch! Duschen nur, wenn´s nötig ist, denn WASSER IST KNAPP! Die Wasserversorgung in den Palästinensischen Gebieten ist schlecht und daher stimmt der Blick aus Palästinensischen Dörfern im Tal auf sprießende Rasenteppiche der israelischen Siedlungen auf den Hügelspitzen nicht gerade versöhnlich.
Wir hatten heute besonderes Glück, weil angeblich der Einsatzleiter der Hundertschaft für Bilein gewechselt wurde. Zu merken war das daran, dass es keinerlei Eskalationen gab und so wurden wir Zeugen und Teilnehmende der “friedlichsten Demo in Bilein“, die aus etwa sechzig, siebzig Demonstranten, bestehend aus zwei Händen voll angereister Israelis, ein paar Händen voll „Internationaler“, dann ganzer Familien aus dem Dorf bestand. Wie viele der Teilnehmenden eigentlich Journalisten waren, ist schwer zu sagen, denn fast jeder hatte Kameras dabei.
Übrigens soll das Riechen an aufgeschnittenen Zwiebeln und um Mund und Nase gebundene Tücher die Wirkung des regelmäßig eingesetzten Tränengases minimieren. Professionell ausgestattete Journalisten hatten denn auch schussfeste „Press“-Westen, Helm und Gasmaske dabei. Ich will mich hier nicht als mutige „Krawalltouristin“ wichtig machen, wenn man will darf man auch das moeglicherweise provokative Auftreten einiger Demonstranten kritisieren. Aber viele junge Leute, mit denen wir hier gesprochen haben, fühlen sich vom Rest der Welt mit ihrer auswegslosen Situation allein gelassen. So absurd und inszeniert dieses Spektakel auf dem Olivenhain mit wunderschönem Ausblick auch wirkt: zumindest gelangen hierdurch symbolträchtige und einfach verständliche Bilder an einen kleinen Teil der Weltöffentlichkeit. Nicht zu vergessen: es geht hier um sehr viel mehr als nur um Symbole.
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hallo - marhaba - shalom

Lena und Sebastian gehen nach Ramallah... Tina und Christine gehen nach Tel Aviv... Anne geht nach Ostjerusalem... ... und Linda geht nach Beer Sheva. Und zusammen fahren wir nach *palisra*. Sechs ASAten sind wir und diesen Sommer werden wir drei Monate in Israel / Palästina in vier verschiedenen Projekten als Praktikanten arbeiten. Hier in *palisra* berichten wir von allem, was uns passiert, was uns wichtig ist, von unserer Arbeit und unserer Freizeit.

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