15
Okt
2005

Imagine there’s no Heaven, above us only sky... Ein interkultureller Abtrag.

Alles in allem reicht es mir gerade. Wohl auch weil ich fast jeden Tag nur vor meinem Notebook sitze, das wie so vieles hier – Fenster, Türen, Tische, Stühle, Kühlschränke, Brot etc. – nur wie das Original aussieht, aber nicht so funktioniert. (Danke, Bill Gates, aber ich will die ungezählten Fehlerberichte nicht an dich senden, du Arsch!) Viel mehr, als an unserer Studie zu schreiben, ist auch deshalb gerade nicht drin, weil die von uns noch dringend benötigten InterviewpartnerInnen sich ziemlich rar machen und...

...nun ja, die übrigen Problemchen lassen sich wohl mit dem schönen Wort Moskitoämterramadan treffend zusammenfassen. Die Moskitos lassen mir nächtens viele der im Normalfall verpönten Nazivergleiche zufliegen, zu Hause türmt sich Ärger auf (Kleiner Tipp am Rande: keinen Berliner Bürokraten Glauben schenken, die behaupten, man könne bei Abwesenheit das Wichtige auch per E-Mail, sprich I-Mehl, klären... Die lauschen garantiert den Hörbüchern von Bill Gates’ Autobiographie oder Hitlers Tagebüchern, während sie Mückenschwärme im von Rabatten gezierten Garten züchten! So Leute sind das, Vorsicht!) und wenn man nicht gerade Muslim ist, kann der Ramadan noch stressiger sein, als wenn man Muslim ist.
Für mich als Außenstehenden scheint Ramadan so etwas zu sein, wie ein gesetzlich restriktiv befohlener, einen Monat andauernder „Heilig“abend: die Menschen sind im Kauf- und Kochrausch, total nervös und aggressiv, und wenn endlich die Abenddämmerung in den gerade so überlebten Tag kotzt, fressen sich alle in einem Tempo die Wampen voll und Rauchen, als solle es kein Morgen mehr geben. Ob sie danach auch kitschig dekorierte Kinder absurde Lieder quäken lassen, um ihnen, belohnend für das Geplärre, die Krone der Völlerei auf die Milchzähne zu setzen, weiß ich allerdings nicht. Im Zweifelsfall vertreten diesen Part aber auch die Muezzine, die während des Ramadans alle paar Minuten Koransuren über schlechte Lautsprecher in den Äther „singen“. So also gestaltet sich aus meiner etwas angenervten Perspektive der Heilige (!) Fasten(!)monat(!) in der Realität. Und wer es mit dem ganzen fadenscheinigen Zirkus nicht gar so heilig hat, aber auch nicht belangt werden will, isst, trinkt, vögelt und insbesondere: raucht halt im besonders Geheimen, wie einem von Ebensolchen unter der Hand mitgeteilt wird. Aber wehe, man ertappt die anderen dabei. Die palästinensische, wenigstens auf Ramallah bezogene Variante des Spießbürgers existiert also auch und ist von ihrem deutschen Zwilling nicht allzu verschieden. (Jedenfalls so man davon absieht, dass die Besatzungsmacht keine Bürgerstatus als solchen genehmigt.)
Die Option, als in der Westbank wohnender Atheist und Ausländer mal eben in Israel Zuflucht vor dem ganzen Brei zu suchen, bringt leider dann auch nicht so viel: jüdisches Neujahrsfest, Yom Kippur und werweißwasnochalles...

Und mich mit meiner irgendwann beginnenden Rückkehr zu beruhigen, klappt wohl auch nicht: dann wird Vorweihnachtszeit in Deutschland sein! Also alles in allem eine narrenfreie Phase, die so etwas darstellt, wie ein ins Totalitäre gesteigerter Ramadan: Wühltische bei Aldi und Karstadt künden vom Konsumterrorismus, über Sinn und Verstand wird eine Fathwa verhängt, das Biedermeier in den Wohnzellen wird unter gestickten Märtyrerdeckchen versteckt, verrotzte Gören basteln aus von den Konsumterroristen viel zu sorglos beiseite gelegtem Verpackungssondermüll Unmengen schmutziger Geschenkbomben, die sie „Gaben“ nennen, und in Dauerfolter sabbern einem Muezzine die armen Ohren voll, die allerdings nicht Muezzine heißen, sondern unter Schläfernamen wie Chris Rea oder George Michael in den akustischen Dschihadd ziehen. Last Christmas I gave You my heart... In der Abendmesse faseln dann Hassprediger von den glorreichsten ihrer Verbrechen, was die Besinnlichen zur selbstgefälligen Andacht ob der Größe ihrer Kultur und ihres Herrn bewegt. Mit noch gewaltigeren Emotionen etwas anderer Natur werden sodann Kollekten für den weiteren Kampf und die Nachkommen der für ihn gefallenen Märtyrer gesammelt. Und wie ein deutsches Damoklesschwert üüüber ahhellem, üüüber ahhelem in der Welt, lässt die Weihnachtszombieansprache von Horst-Ich-liebe-dieses-La-and-Köhler sobald erahnen, wie nahe ahelle der paradiesischen Endzeit schon sind, wenn sie sich nur weiterhin kreuzritterlich konsumierend anstrengen: „Wir haben schon einmal Großes vollbracht...“ Und so jagt schon eine Woche später ganz Deutschland wieder etwas in die Luft. Wurde ja auch Zeit, schließlich sind wir ja nicht irgendwer, nicht wahr Horst?
Kein Wunder also, dass zu fortgeschrittener Stunde am Heiligen Abend immer die Selbstmordattentäter Bruce Willis, Charles Bronson oder Clint Eastwood einsam, zynisch, lahmarschig cool und vor allem: bis an die Zähne bewaffnet über die extra für Weihnachten gekauften Plasmabildschirme stolzieren, bis dem ganzen un- wie fehlgläubigen Mob der Garaus gemacht wurde.

Wenn unser aller Gott tatsächlich sooo groß ist, dann doch wohl vorrangig deshalb, weil er uns diese ganze in seinem Namen fabrizierte und wahlweise von der Bin Laden Corporation oder Kaisers-Tengelmann herzlichst präsentierte Scheiße ungestraft durchgehen lässt! Noch jedenfalls, wie jetzt einige der besonders Eifernden und Frömmelnden ergänzen würden... und bald auch ich. Ach, diese Moskitos...

Driving home for X-Mas. Ho Ho Ho, wie ich mich freu!

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hallo - marhaba - shalom

Lena und Sebastian gehen nach Ramallah... Tina und Christine gehen nach Tel Aviv... Anne geht nach Ostjerusalem... ... und Linda geht nach Beer Sheva. Und zusammen fahren wir nach *palisra*. Sechs ASAten sind wir und diesen Sommer werden wir drei Monate in Israel / Palästina in vier verschiedenen Projekten als Praktikanten arbeiten. Hier in *palisra* berichten wir von allem, was uns passiert, was uns wichtig ist, von unserer Arbeit und unserer Freizeit.

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