3
Okt
2005

Ein Zaun, oder so.

Eine Zwiebel, ein Helm, Tuch und Fotoapparat. Und eine Portion Glück. Unser Glück war groß genug, dass wir eigentlich nur unseren Fotoapparat brauchten, den Rest hatten wir eh nicht dabei.
Jeden Freitag seit dem Näherkommen der neu gebauten Mauer im März findet im Dorf Bilein, 30 Min Autofahrt von Ramallah, eine Demonstration statt, um die Wut über die Einbetonierung des Dorfes zu äußern und sie in mediengerechte Symbole zu verpacken. Daher ist auch der Fotoapparat, besser noch die Filmkamera, der wesentliche Gegenstand vor Ort: in Palästina-Fahnen gehüllte und herausgeputzte Kleinkinder, die vor einer Reihe martialisch ausgerüsteter israelischer Soldaten herumhüpfen; in Olivenbäumen sitzende Dorfbewohner, die ihre Ernte demonstrativ einbringen, hinter ihnen fällt der Blick auf eine wunderschöne Hügellandschaft - und eine Reihe israelischer Soldaten; der mitgeführte Esel, der sich hervorragend in Szene setzen lässt; einzelne Rangeleien zwischen Demonstranten und Militärs, Rangeleien um ein bis hierhin und nicht weiter… Bilder von internationalen Demonstranten, von älteren israelischen FriedensaktivistInnen, gehisste Palästina-Fahnen, die aus heikler Symbolik nicht von israelischen Soldaten heruntergerissen werden dürfen… bieten gut komprimierte Bilder für die Weltöffentlichkeit.
Wenn einem bewusst wird, worum sich dieser ganze Zirkus eigentlich dreht, dann kann der Protest nicht groß genug sein. Denn der „Schutzwall“, der Israel vor Selbstmordattentaten beschützen soll, wird nicht nur um das gesamte Westjordanland errichtet, es werden ganze Dörfer eingemauert. Die Bewohner dieser Gebiete werden somit um ein weiteres Stück ihrer (Bewegungs-) Freiheit beraubt.
Der Gedanke, innerhalb Deutschlands von Hamburg aus nicht nach Ostberlin fahren zu dürfen (oder andersrum) scheint mittlerweile völlig absurd – der Gedanke, sein Dorf Tetenbüll nur mit der willkürlichen Erlaubnis dort stationierter Soldaten betreten und verlassen zu dürfen, ist wohl nicht nur für die Bevölkerung Tetenbülls unvorstellbar.
In Palästina werden Dörfer eingemauert. Die Dörfer die nahe des Verlaufs der Mauer liegen, werden systematisch eingeschlossen, Bauern werden dadurch von ihren Feldern weggesperrt, andere verlieren ihre Arbeit außerhalb des Dorfes und damit ihre Lebensgrundlage. Und dann geht die Kalkulation israelischer Politiker auf: bevor sie in ihren Dörfern verhungern und verdursten, verlassen die Menschen ihre Heimat – unbewohntes Land kann leichter eingenommen werden.
Bilein wird umzingelt, halbkreisförmig verläuft in Zukunft die Mauer hinter dem Dorf und auf der anderen Seite wachsen israelische Siedlungen von den Kuppen der umliegenden Hügel herab.
Neben dem Kampf um den Boden des, ...ach..., „Heiligen Landes“, wird der Zugang zur knappen Ressource Wasser als Mittel der Unterdrückung eingesetzt.
Mohammad hat das Parterre seines zweigeschössigen Hauses als zentralen Anlaufpunkt und als Unterkunft für aus dem Ausland (und aus Israel) angereiste Demonstranten bereitgestellt. Trotzdem man ja eigentlich ein Teil dieser merkwürdigen Gemeinschaft ist, muss man über dieses Szenario erstmal schmunzeln: junge Leute liegen auf Matratzen herum, begrüßen eintreffende bekannte Gesichter überschwänglich und beäugen unbekannte aus ihrer lässigen Position mit cooler Distanz. Die Grundregeln des Miteinanders sind auf Plakaten erklärt: Abwaschen!, Geld in die Haushaltskasse zahlen, auch mal aufräumen; über der Toilette: if it´s yellow let it mellow, if it´s brown flush it down! Und: einen wahren Revolutionär erkennt man am Geruch! Duschen nur, wenn´s nötig ist, denn WASSER IST KNAPP! Die Wasserversorgung in den Palästinensischen Gebieten ist schlecht und daher stimmt der Blick aus Palästinensischen Dörfern im Tal auf sprießende Rasenteppiche der israelischen Siedlungen auf den Hügelspitzen nicht gerade versöhnlich.
Wir hatten heute besonderes Glück, weil angeblich der Einsatzleiter der Hundertschaft für Bilein gewechselt wurde. Zu merken war das daran, dass es keinerlei Eskalationen gab und so wurden wir Zeugen und Teilnehmende der “friedlichsten Demo in Bilein“, die aus etwa sechzig, siebzig Demonstranten, bestehend aus zwei Händen voll angereister Israelis, ein paar Händen voll „Internationaler“, dann ganzer Familien aus dem Dorf bestand. Wie viele der Teilnehmenden eigentlich Journalisten waren, ist schwer zu sagen, denn fast jeder hatte Kameras dabei.
Übrigens soll das Riechen an aufgeschnittenen Zwiebeln und um Mund und Nase gebundene Tücher die Wirkung des regelmäßig eingesetzten Tränengases minimieren. Professionell ausgestattete Journalisten hatten denn auch schussfeste „Press“-Westen, Helm und Gasmaske dabei. Ich will mich hier nicht als mutige „Krawalltouristin“ wichtig machen, wenn man will darf man auch das moeglicherweise provokative Auftreten einiger Demonstranten kritisieren. Aber viele junge Leute, mit denen wir hier gesprochen haben, fühlen sich vom Rest der Welt mit ihrer auswegslosen Situation allein gelassen. So absurd und inszeniert dieses Spektakel auf dem Olivenhain mit wunderschönem Ausblick auch wirkt: zumindest gelangen hierdurch symbolträchtige und einfach verständliche Bilder an einen kleinen Teil der Weltöffentlichkeit. Nicht zu vergessen: es geht hier um sehr viel mehr als nur um Symbole.

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Lena und Sebastian gehen nach Ramallah... Tina und Christine gehen nach Tel Aviv... Anne geht nach Ostjerusalem... ... und Linda geht nach Beer Sheva. Und zusammen fahren wir nach *palisra*. Sechs ASAten sind wir und diesen Sommer werden wir drei Monate in Israel / Palästina in vier verschiedenen Projekten als Praktikanten arbeiten. Hier in *palisra* berichten wir von allem, was uns passiert, was uns wichtig ist, von unserer Arbeit und unserer Freizeit.

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