20
Sep
2005

Geschichten

Die dritte Woche in Ramallah ist fast vorbei, Anekdoten und Geschichten, Gesichter und Schicksale haben sich angesammelt. Von manchem kann ich hier berichten, auch ohne euch zu langweilen, manches bleibt lieber noch stand-by in meinem Kopf oder Herzen, weil es zu viel für diesen Ort ist und Zeit braucht, um erzählt zu werden.
Zum Beispiel: Die Kinder aus dem engen übervölkerten muslimischen Teil der Jerusalemer Altstadt, bei denen wir Gäste sein durften, als der Jerusalem Circus zu Besuch kam. Ein Freund von uns, der als Schauspieler arbeitet und neben sehr vielen Menschen auch viele interessante Projekte kennt, hat uns (Stephan, Tina, Sebastian und mich) zu dem besagten Kindertreffpunkt in einer engen und verwinkelten Gasse in Jerusalem mitgenommen. Bestimmt sechzig Kinder im Alter zwischen gerade eben mitlaufen können und den ersten Pubertätsschüben waren in einem Raum, einem Flur und einem kleinen Hinterhof damit beschäftigt, jonglieren zu üben, rum zu rennen und Plastikteller auf einem Stab in der Luft rotieren zu lassen. An diesem Tag gab es eine kleine Aufführung von geübten Mitarbeitern des Jerusalem Circus in der Altstadt, das heißt sechzig Kinder mussten einmal quer durch die Stadt laufen und sich sehr lange gedulden, bis die Bühne aufgebaut war und die Show losgehen konnte. Dass eine Horde von sechzig Kindern schwer zu bändigen ist, kann man sich vorstellen. Dass diese sechzig Kinder, die unter beengten Verhältnissen und in einer schwierigen Situation aufwachsen, noch schwerer zu bändigen sind, sicherlich auch. Umso wichtiger, dass es Projekte wie dieses gibt, das den Kindern ein wenig Anregung und Unterhaltung bieten kann.
Ein schönes Gesicht bleibt mir in Erinnerung, das von Bayana, eine junge Schauspielerin, die an der Uni in Jerusalem ihren Abschluss in englischsprachiger Literatur über einen Vergleich US-amerikanischer (Alice Walker) mit palästinensischer feministischer Literatur geschrieben hat. Sie arbeitet in einer Theatergruppe, die mit ihren Stücken quer durchs Land ziehen und ihr Publikum zum Mitspielen und diskutieren anregen. In der Uni habe ich eine Forum-Theater-Inszenierung angesehen, die von einer Zwangsheirat eines vierzehnjährigen Mädchens handelte, das wegen ihres Widerstandes gegen diese Fremdbestimmung von Vater und Onkel zu Tode geprügelt wurde („Familienehre“). Leute aus dem Publikum durften in eine Rolle schlüpfen und den Verlauf des Stücks beeinflussen, darüber wurde diskutiert und letztendlich Ideen gesammelt, um eine Änderung der Gesetzeslage bei der Palästinensischen Autonomiebehörde zu fordern.
Gut, dass aus der Gesellschaft, in der manche Väter ihre Töchter umbringen, um ihre „Familienehre“ zu retten, sich auch Frauen wie Bayana entwickeln.
Unfassbar ist die reale Geschichte vom Ehrenmord, der kürzlich in einem Dorf in unserer Nähe geschehen ist. Dort ist eine 32-jährige Frau von ihren männlichen Verwandten vergiftet worden, nachdem bekannt wurde, dass sie von einem außerehelichen Verhältnis zu einem verheirateten Mann schwanger geworden ist.
Unfassbar ist, dass die „geschändete“ Familie, um ihre Ehre wieder herzustellen, einen Rachefeldzug durch das Dorf des Vaters des unehelichen, ungeborenen, nun toten Kindes gemacht hat und sechs Häuser von Familienmitgliedern des Mannes geplündert und angezündet hat. Unfassbar ist, dass weder das israelische Militär, dass die Region kontrolliert, dem Rachefeldzug ein Ende bereitet haben, noch dass die Strukturen der Autonomiebehörde irgendeinen regulierenden Einfluss auf die Situation ausgeübt hätten; angeblich haben Mitglieder der politischen Strukturen die „geschändete“ Familie bei der Wiederherstellung ihrer Ehre gedeckt. Unfassbar ist, dass nach Verhandlungen zwischen Familienangehörigen aus dem Dorf des Mannes (noch dazu christlich) mit Familienangehörigen aus dem Dorf der ermordeten Frau (muslimisch, wenn das eine Rolle spielt) zu der Einigung gekommen sind, dass 100 000 Dollar an die geschändete Familie (nicht die, deren Häuser abgebrannt sind, sondern die, deren Schande immer noch bereinigt werden muss) zu zahlen sind. Unfassbar ist, dass die Familie des Mannes, die uns ihre abgebrannten Häuser gezeigt hat und die Situation ohne Blutvergießen klären wollte, sich auf diese Regelung eingelassen hat. Die Regelung sieht außerdem vor, den mutmaßlichen Vater des Kindes (Sicherheit soll ein Gen-Test bringen) aus dem Gefängnis, in dem er momentan zu seinem eigenen Schutz einsitzt, und damit in die Vogelfreiheit zu entlassen.
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hallo - marhaba - shalom

Lena und Sebastian gehen nach Ramallah... Tina und Christine gehen nach Tel Aviv... Anne geht nach Ostjerusalem... ... und Linda geht nach Beer Sheva. Und zusammen fahren wir nach *palisra*. Sechs ASAten sind wir und diesen Sommer werden wir drei Monate in Israel / Palästina in vier verschiedenen Projekten als Praktikanten arbeiten. Hier in *palisra* berichten wir von allem, was uns passiert, was uns wichtig ist, von unserer Arbeit und unserer Freizeit.

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