25
Sep
2005

Salam oder Shalom?

Nun ist mein letzter Eintrag hier also schon einiges her; das steht wohl symbolisch für meine Stimmung. Viele neue Menschen, Eindrücke und Erlebnisse reihen sich aneinander und vielleicht wäre es besser gewesen, sich nach zwei Wochen mit öde-glücklichen Touristeneindrücken wieder zu verabschieden... so aber erhalte ich immer detaillierte Informationen und verliere oft die Neugier, noch mehr Details über das Leben hier in Erfahrung zu bringen, ohne Abhilfe schaffen zu können, wo es nötig wäre. Kurz: ich habe etwas den Blues und vermisse sehr die Isolation, die ich mir zu Hause in Berlin holen kann, wo und wann immer ich auch mag. Einfach mal durch die Straßen tingeln, einen guten Kaffee trinken, Zeitung lesen, die Klappe halten, mal schlechte Laune haben und rummotzen, nicht weiter auffallen eben – das geht alles nicht so richtig hier, es schaut eben nur optisch verwestlicht aus... Mittlerweile jedenfalls sind wir ziemlich herum gekommen, haben u.a. Bethlehem inklusive der Geburtskirche Jesu und einem der seit Ewigkeiten in Armut institutionalisierten Flüchtlingslager gesehen, bald fahren wir für einige Tage nach Jordanien, wenn man uns lässt, usw... Das deutscheste, was wir bisher hier gemacht haben, war meine Geburtstagsparty am Wahlabend – die war sehr angenehm und zur Wahl selbst verliere ich, wie es ja auch gerade in der BRD üblich ist, besser kein konkretes Wort.

Zunächst: meine Meinung über Jerusalem, speziell die Altstadt, hat sich trotz längeren und intensiveren Aufenthalts nicht wesentlich verändert. Heilig ist die Stadt keinesfalls, höchstens noch heilig krank und dreckig und unangenehm verrückt – also nicht einmal mehr in einem kreativen Sinne beknackt. Mich wundert es nicht mehr, dass die wahren materiellen Schätze des Christentums im Vatikan verbuddelt liegen, so sie transportabel waren... Dennoch: dem historizistischen Nippes Jerusalems („See, see, very holy, holy!“) steht die fast völlige Abwesenheit kultureller Wertgegenstände in der Westbank – Judäa und Samaria, wie die Juden es nennen – gegenüber; alles, was die Palästinenser über ihre Kultur wissen, scheint nur in ihrer Seele oder nur in europäischen Museen zu liegen.
Über die kleine Blut- und Ehrenfehde, die kürzlich hier stattfand und bisher erstaunlicherweise nur ein Leben, aber auch viele Häuser und wirtschaftliche Existenzen kostete, schrieb Lena ja schon etwas. Ziemlich absurd das Ganze und wenn man die angeblich ausgehandelte, so genannte Lösung des Problems betrachtet, hört zumindest bei mir die Bereitschaft zum „interkulturellen Lernen“ auf und die Abscheu bleibt. Die Mörder, Brandstifter und Brandschatzer werden mit einer Riesensumme für ihre wie auch immer entartete Entehrung entschädigt und eines der Opfer ist nun von der eigenen Familie um der wohl vorübergehenden relativen Sicherheit der einzig in der Westbank verbliebenen christlichen Kleinstadt willens vogelfrei gegeben – noch in einem Knast sitzend, in dem korrumpierbare Milizen (Polizei mag ich das nicht mehr nennen, was man hier sieht und hört) ein- und ausgehen, die schon, während der Brandschatzermob um die Häuser zog, die Fresse hielten. Fairerweise jedoch sollte erwähnt werden, dass auch israelische Soldaten vor Ort waren, die – frei nach dem Motto: schön, wenn die sich schon selber den Garaus machen – die Waffen unten hielten und gelangweilt abzogen, als die Brände kleiner wurden. An den Checkpoints und anderswo sind sie ja nicht so zimperlich und kulturell aufmerksam. Nun ja, der Beschuldigte sitzt jetzt jedenfalls im Fadenkreuz der „Schutzhaft“ und ein von außen einsehbarer Fensterplatz im Knast genügt, damit er liegt. Ob es seiner Familie gelingen kann, den Mann noch rechtzeitig außer Landes zu schaffen, wage ich zu bezweifeln, weil sein Fremdgehen – mit einer nunmehr toten, verbuddelten, exhumierten, zerschnippelten und erneut verbuddelten Tochter der Mörder und Brandschatzer – auch offiziell ein justiziables Vergehen darstellt. Auch wenn die (aus meiner Sicht) tatsächlichen Opfer ein berechtigtes Interesse daran haben, diesen Konflikt nicht als einen auch religiösen an die große Glocke zu hängen: der Platz für Christen in der Westbank wird enger und ihr Leben härter, zumal sie ohnehin nur selten den unteren Gesellschaftsschichten angehören und auch insofern willkommene Magnete von Neid, Habgier und Übergriffen sind.

Mittlerweile bekomme ich auch mehr von Ausmaß und Methode der Besatzungsherrschaft mit. Neben den lebhaften Erfahrungsberichten von Freunden und Bekannten, die die zum Teil totale Reaktion der IDF auf die Zweite Intifada überlebt haben, sind insbesondere die Checkpoints der Israelis, die meist auf Hügeln gelegenen Siedlungsfestungen und die auch während meiner Anwesenheit hier permanent größer und länger werdende Trennungsmauer beeindruckende Kennzeichen einer auf beiden Seiten ideologisch erstarrten Absurdität. Am Kallandia-Checkpoint kann man mit nur sechs geraden Schritten offiziellen israelischen Boden betreten, ihn wieder verlassen, wieder betreten, wieder verlassen, betreten... So pervers die israelische Besatzungspolitik ist, so intelligent ist sie auch und ringt mir nicht selten ernsthafte Bewunderung für die kommunikative Genialität ab, mit der es oft erreicht wird, die Palästinenser in Europa als hirnlose Attentäter hinzustellen, die den friedliebenden israelischen Staat bedrohen. Die nach der Zweiten Intifada noch in Israel arbeitenden Palästinenser zahlen dort Steuern und Sozialabgaben, von denen sie jedoch keine Rechte ableiten dürfen, wenn die Mauer fertig ist, werden ohnehin noch viel mehr dieser Arbeitsplätze an die ebenso unterschichteten Gastarbeiter aus anderen, meist noch ärmeren Teilen der Welt fallen. Insbesondere zwischen Ramallah und Jerusalem werden, steht die Mauer erst einmal vollends, wohl viele Familien abermals enteignet und zerrissen, deren einer Teil in Israel lebt und die entsprechende Erlaubnis hat, der andere in der Westbank (oder dem, was davon übrig sein wird), und jene Erlaubnis nicht erhält – ohne entsprechende Bezahlung ohnehin nicht. Die unzähligen Siedlungen der Israelis unterbinden rigoros jede Freizügigkeit, die guten Straßen werden für Palästinenser gesperrt und ans israelische Verkehrsnetz angeschlossen. Nistete man früher viele eher der Arbeiterpartei zugewandte soziale Problemfälle in die staatlich geförderten Siedlungen ein, um sich konservatives Anti-Abzugsstimmvieh heranzuzüchten, hocken heute viele neue Israelis aus der ehemaligen Sowjetunion und den USA in den sich spiralförmig von den Bergkuppen schlängelnden Festungen und gerieren sich paramilitärisch. Viele palästinensische Städte sind mittlerweile komplett von Siedlungen eingekesselt, die bei Bedarf zusammengeschnürt werden, auf das die im Tal gelegenen Quartiere, ökonomisch wie sozial und gesundheitlich zerrüttet, aufgegeben werden. Wenn das israelische Militaer richtig Glück hat, findet sich dann auch noch so eine verarmt radikale Sau, die sich irgendwo in die Luft sprengt, und hat die westlichen Medien wieder auf seiner Seite. Und wenn der internationale Widerspruch doch mal etwas härter ausfällt, verlagert man eben ein paar Container aus provisorischen Siedlungen hundert Meter weiter nach Osten – sie wurden ohnehin nur dafür aufgestellt und haben keinen sonstigen Wert als den medial-psychologischen. Neulich bin ich spät abends raus gelaufen, um nur einige hundert Meter entfernt Kippen zu kaufen und prompt in einen der „fliegenden“ Checkpoints geraten: eine flugs im Dunkeln mittels Panzerwagen errichtete Straßensperre, drei Soldaten kontrollieren die Autofahrer und Passanten, zwei sichern nach oben und unten ab, ein Scharfschütze liegt etwas weiter entfernt versteckt, um eventuelle Durchbruchsversuche effizient zu vereiteln. Der erste Kontrolleur jedenfalls winkte mich durch, dem zweiten musste ich mit erhobenen Armen kurz erklären, was ich vorhabe, und warum (Warum geht man wohl am Abend Zigaretten kaufen???). Meine Antwort hat ihn denn auch nicht erstaunt und ich durfte passieren. Der dritte aber (so ein dummer Dicker, dem man auf dem Schulhof immer die Pausenbrote geklaut hat) lud das Gewehr durch, hob es, schrie irgendetwas, ich stolperte im Dunkeln, hatte auch schon seinen Stiefel auf dem Rücken und ein komisches Kribbeln unterhalb des Nackens – auf die Stelle zielte der Gewehrlauf, ohne mich zu berühren. Gekribbelt hat es trotzdem, mein Pass lag im Rucksack, der Soldat konnte auf Englisch nicht schreien, aber bereits nach fünf Minuten durfte ich weiter, hörte wohl nur aufgrund meiner Fremdheit ein kurzes „Shurry“ – nachts sind alle Katzen grau und auf dem Rückweg durfte ich ohne Hinderung passieren. Die Palästinenser lässt man, wenn sie Glück haben, gerne mal, besonders zur sengenden Mittagszeit, eine Stunde und länger im Dreck liegen.
Von den unzähligen Erfahrungsberichten anderer hier wage ich derzeit noch kaum zu schreiben; zu groß ist die Befürchtung, in die Nähe beschissener Holocaustvergleiche und dummdreister Verschwörungstheoretiker geraten zu können – immer geeignet, typisch deutsche Entschuldungsdebatten zu stabilisieren. Doch die vielen Erzählungen, die eigenen Besichtigungen sowie auch die absurden persönlichen Erfahrungen vor Ort bedingen unwillkürlich, dass es immer schwerer fällt, sadistische Perversionen israelischer Militärs als moralische Verfehlungen einzelner Vollidioten – soldateske Ausnahmen mithin – zu werten. Wozu Menschen fähig sein können, gibt man ihnen die Macht und die Straffreiheit, war mir auch vorher klar. Solchen Menschen ins Gesicht zu sehen, aus Selbstschutz freundlich lächeln zu müssen, sich von ihnen kontrollieren und gelegentlich auch anfassen oder eben treten lassen zu müssen – das alles ist etwas völlig anderes; stets getragen von der absurd arroganten Selbstgewissheit, man selbst würde anders, moralischer, ethischer, freundlicher handeln, steckte man nur in Uniform und wäre Teil des von Gott erwählten und von den Nazis fast vernichteten Volkes... ja, ja, positive Diskriminierung, der es an der notwendig ausgeglichenen Objektivität mangelt, ich weiß. Ich sollte besser aufhören und mich darauf freuen, dass ich das alles, zurück in Deutschland, wieder ganz anders und gleichgültiger sehen werde.

Auch wenn es also, zusammenfassend, immer wieder gelingt, den Israel-Palästina-Konflikt als einen hochgradig diffizilen zu kommunizieren und irgendwie alle eine Meinung dazu haben: ich sehe auf beiden Seiten einfach zu viele Menschen, die leben und arbeiten wollen, lieben, Kinder kriegen, Spaß haben, alt werden, gesund bleiben – der ganz normale Kram halt. Aber für die Israelis ist trotz der wenigen Proteste das über fünfzig Jahre alte Besatzungsregime immer noch die ökonomisch günstigste und innenpolitisch opportunste Zukunftsvision; jedenfalls so der Westen weiterhin den Großteil der Kosten seines letzten Außenpostens trägt. Der Gaza-Abzug ändert daran gar nichts, war es doch im Gegenteil ein gelungener Coup, um sich weitergehende Forderungen der so genannten Internationalen Gemeinschaft auf Jahre hinaus vom Hals zu schaffen, ein ohnehin unnützes und menschlich brutalisiertes Gebiet in eine andere Art von Chaos zu treiben, und obendrein die Palästinenser als sich alsbald selbst zerfleischende, unzivilisierte Wilde bloßzustellen. Und für die Palästinenser... ich weiß nicht. Viele jener, die ich hier traf, haben sich irgendwie abgefunden und kanalisieren ihre aufgestauten Aggressionen anderweitig (...). Ich habe das Gefühl, dass sich viele nach Jahren der Tyrannei und Selbstzermürbung in eine Art Lebenslüge flüchten: wenn die Besatzung erst einmal endet, wenn erst einmal ein souveränes Palästina mit einer Gaza-Exklave besteht, wenn es erstmal erlaubt ist, eigene Fehler zu machen und zu korrigieren, wenn man sich erstmal nicht mehr von den ganzen hochnäsigen Pazifistentouristen und NGO’s die Welt und die westliche Demokratie erklären lassen muss, wenn endlich mal die meist korrupte Politik der arabischen Bruderstaaten etwas ernstere Solidarität zeigt und den Ölknopf drückt, wenn Scharon endlich aus seinem privaten Jerusalemer Palast entfernt wird und als politischer Kriegsverbrecher und militärischer Massenmörder in Den Haag auf der Anklagebank hockt und heult, wenn erstmal die tausenden politischen Gefangenen aus israelischen Knästen befreit sind, wenn man erst einmal etwas Stolz auf das Geleistete entwickeln darf, das nicht irgendein Panzer gleich wieder zerstört... dann, ja dann... Bullshit, wie ein Leben im Futur Zwo. Man träumt sich in eine idealistische Phantasie hinein, macht gelegentlich mal ein Intifadachen, die Intelligenz wandert ab oder isoliert sich in den Villenvororten vom Gesinde und die minder Bemittelten lassen sich in den Sog der Hamas- und sonstigen Ideologien ziehen – zionistische Weltverschwörung, amerikanischer Imperialismus, glorreicher Hitler und der ganze andere Scheiß... Kurz: ich habe auch keine Lösung und jetzt, wo ich schon mal hier bin, habe ich auch kaum den Nerv und den notwendigerweise fehlenden Respekt, mir reißbrettartig politische Kompromisslösungen herbeizuzaubern.

Beim nächsten Mal wird der Blues wieder vorbei sein, versprochen.
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hallo - marhaba - shalom

Lena und Sebastian gehen nach Ramallah... Tina und Christine gehen nach Tel Aviv... Anne geht nach Ostjerusalem... ... und Linda geht nach Beer Sheva. Und zusammen fahren wir nach *palisra*. Sechs ASAten sind wir und diesen Sommer werden wir drei Monate in Israel / Palästina in vier verschiedenen Projekten als Praktikanten arbeiten. Hier in *palisra* berichten wir von allem, was uns passiert, was uns wichtig ist, von unserer Arbeit und unserer Freizeit.

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