3
Sep
2005

Beitrag eigentlich vom 28.08. oder so...

...so sagten wir Gütersloh ein Lebewohl und flogen ins Heilige Land.

As-salamu alaikum! Dafür, dass wir von Montag Abend bis Donnerstag Nachmittag, die Leistung erbracht haben, nach einem letzten, privat produzierten Interview-Roadmovie in Gütersloh nach Hamburg zu rasen, von dort aus nach Zürich zu jeten, von dort nach Tel Aviv (man hat uns nicht mal gefilzt, Unverschämtheit) und von dort nach Jerusalem, über den Kallandia-Checkpoint samt des ästhetisch wenig anspruchsvollen und daher der Sache gerecht werdenden Schutzwalls der Israelis – letztlich nach Ramallah, in dessen Nähe wir jetzt wohnen – hält sich der Kulturschock in annehmbaren Grenzen. In Ramallah sind wir, voll bepackt, käseweiß und mal eben das Notebook auf einer Hauptstraße auspackend, wohl in jedes Fettnäpfchen gelatscht, was sich uns bot; mit Ausnahme des Polizisten, der eher nach MP aussah und sich aus höflicher Distanz um unsere Sicherheit zu sorgen schien, jedoch, haben dies wohl alle mit Nachsicht betrachtet. Insbesondere selbstverständlich unsere bisher einzigen zwei Solotaxifahrer: zweimal gefahren, zweimal in vollem Bewusstsein beschissen worden. Da einer jedoch Israeli, der andere Palästinenser war, wurden wir immerhin politisch korrekt über alle Ohren gehauen. Nun ja, Lehrgeld halt. Und hätten wir nicht die Begleitung und Unterstützung Tinas gehabt, die schon eine Weile in Tel Aviv ist, wäre wohl alles etwas unkoordinierter gelaufen.

So versuchen wir nun anzukommen, was hier sehr gut gelingt, da wir auf dem Star Mountain (Djebel nejmer; Fotos und Infos unter: www.starmountain.org) unterkommen, einer verhältnismäßig sehr gut ausgestatteten ehemaligen Lepra-Kolonie (ja: Le-pra!), die heute ein „Behinderten-Rehabilitations-Center“ (!), im Kern also eine sehr interessante Schule ist. Die Grillen zirpen, der Verkehr rauscht nahe vorbei, im Südlichen liegt Ramallah, dahinter leuchtet der Lichtsmog Jerusalems, im Nördlichen die Lämpchen Bir Zeits, und neben den regelmäßigen Gesängen des Muezzins (wenig später setzt ein absurd rhythmisches Heulen der Hunde und das Blöcken eines Esels ein – bis der Hahn kräht und die Ramallaher Vorstadtmusikanten fast vollzählig sind) lauscht man des Abends besonders gerne dem etwas entfernten Grollen israelischer Artilleriesalven. Da diese aber recht koordiniert und nach gleichförmigem Kaliber klingen, handelt es sich wohl nur um routinierte Übungsmanöver der IDF – bei Gelegenheit werden wir mal nachfragen (aber nicht bei denen). Wenn man erlebt hat, wie einem die israelischen, fast noch kindlichen RekrutInnenen in überfüllten Bussen, High-Heels oder Nikes ihre uralten, aber stylisch aufgemotzten Gewehre gegen’s Schienbein knallen, klingt weit entfernter Donner eigentlich eher nach lustigem Feuerwerk – nur ohne bunt erleuchteten Himmel. (Speziell für meine Mama: Der Entspannung jedenfalls tut das keinen Abbruch.) Dennoch setzt die Solidarisierung mit der palästinensischen Sache (?) für Menschen wie mich erstaunlich schnell ein, sitzt man erstmal mit ihnen in einem räumlichen Boot… und lässt die kurzen aber heftigen Fetzen revue passieren, die man pauschal in ein paar kurzen Tagen von der israelischen und der palästinensischen Mentalität zu erkennen geglaubt hat. Die israelische Armee jedenfalls kann trotz offiziellen Autonomiestatus Ramallahs recht weit vordringen, da sich in Sichtweite unserer Unterkunft eine riesige Siedlung oder gar Festung befindet, und die Autos fahren dann noch etwas hektischer als gewöhnlich, wenn sie einen rundum gut gesicherten Militärjeep am Straßenrand sehen, dessen Insassen mal eben wieder halbe Kinder in Reih und Glied Aufstellung nehmen lassen und den sich nahenden Fahrern leider sehr mehrdeutig interpretierbare Befehle per Handzeichen geben. Und gerade ist die Situation ohnehin etwas angespannter, weil es seit langem wieder ein relativ großes Attentat in Beer Sheba gab – mal sehen was geschieht. Denn obwohl wir hier quasi an der Quelle sitzen, ist der Informationsfluss für uns gleich null – wir glotzen Tagesschau.



Was unseren Job hier angeht (für alle, die es nicht wissen, sei zunächst nur kurz erwähnt, dass wir ein Schüleraustauschprogramm zwischen der Anne-Frank-Schule in Gütersloh und der School of Hope in Ramallah evaluieren), kann gesagt werden, dass wir den Gütersloher Teil in hervorragend kurzer Zeit, mit von uns dankbar angenommener Unterstützung aller Beteiligten und zu unserer zunächst von Skepsis geprägten Überraschung mehr als umfassend absolviert haben. Nur konzentriert zuhören können wir nach über dreißig Interviews in gut sechs Tagen jetzt erstmal nicht mehr. So verlegen wir uns auf’s langsame Eingewöhnen, lernen ein paar Brocken des palästinensischen Arabischs, genießen das tolle Klima sowie die Unmengen unterschiedlichsten Humus’ etc. und versuchen zu realisieren, dass wir nach all dem Vorbereitungs- und sonstigem Stress der letzten Monate endlich hier sind und ich für meinen Teil zum ersten Mal seit Urzeiten, das Tempo selbst bestimmen kann, in dem ich arbeiten möchte.

Ohnehin hat sich nach arbeits- und aufregungsreichen Monaten in Berlin und anderswo bei mir soweit alles zum Ruhigeren gewendet; die letzten sehnsüchtig erwarteten guten Nachrichten trafen noch kurz vor Abflug ein, so dass ich für mich das ungewohnt entspannte Gefühl haben darf, zu Hause alles in einem guten Abschluss hinterlassen zu haben und mich voll auf unsere Arbeit und unsere Umgebung konzentrieren zu können. So kann sich meine lang vermisste Penibilität wieder Bahn brechen und ich endlich wieder – typisch deutsch – herum mosern, dass dieser oder jener Wasserhahn falsch justiert ist, die Steckdose schräg von der Wand hängt, der Kater nach Katze riecht und das ganze Pipapo… Kurz: alles ist soweit schön, Honeymoonphase, meint Lena, und nach einigen Tagen Ruhe fiel uns eigentlich schon die Decke auf den Kopf. So erkundeten wir Ramallah etwas, lernten gleich ein paar Leute kennen und werden bald Kontakt zur School of Hope aufnehmen – ich mag meinen Job und will grad auch nichts anderes machen. Und wie oft kann man so was von einem Deutschen heute schon noch hören… Die erste kleine politische Fundi-Demo haben wir auch schon mit ansehen dürfen und etwas später ein paar junge Palaestinenser kennengelernt, die uns demnaechst die Uni zeigen werden...



Apropos Politik und Bildung: das Beste hier sei natürlich nicht vergessen. Weit und breit kein Werbeplakat von meinem Bundeskanzler, keines von seiner Konkurrentin… Kein Papst, kein Beckenbauer, kein Kerner, kein Biolek, keine Christiansen, kein Lafontaine, kein Sommer, kein Rogowski, kein Henkel, kein Westerwelle, keine sonstigen Dreigroschenfressen. Aber, bevor ihr alle herstürmt: auch kein Bier, jedenfalls keines auf dem nicht auch groß 0,0% stünde. Seufzschluchzjammer. Andererseits: wozu noch Alkohol, wenn kein Bundeskanzler, keine Konkurrentin, kein Kerner, kein Biolek…. ich hör jetzt auf und rock etwas im Takt der Artillerie. Mer salam (für Christian).

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hallo - marhaba - shalom

Lena und Sebastian gehen nach Ramallah... Tina und Christine gehen nach Tel Aviv... Anne geht nach Ostjerusalem... ... und Linda geht nach Beer Sheva. Und zusammen fahren wir nach *palisra*. Sechs ASAten sind wir und diesen Sommer werden wir drei Monate in Israel / Palästina in vier verschiedenen Projekten als Praktikanten arbeiten. Hier in *palisra* berichten wir von allem, was uns passiert, was uns wichtig ist, von unserer Arbeit und unserer Freizeit.

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